“Manchmal können kleine Alltagshilfen oder Unterstützungen Großes bewirken und somit auch ein Stück zur Lebensqualität beitragen.”

Verlag Vi-Strategie verlegt erstes Kochbuch

Manchmal können kleine Alltagshilfen oder Unterstützungen Großes bewirken und somit auch ein Stück zur Lebensqualität beitragen.”

Interview mit Michèle Günther, eine der beiden Leiterinnen des AWO Therapie- und Förderzentrums Erfurt (TFZ) über die gemeinsame Gestaltung eines Kochbuches für Menschen im Autismus-Spektrum

Kochbücher überfluten bereits seit einiger Zeit den Büchermarkt. In den vergangenen Jahren sind die Umsätze der Branche kontinuierlich gestiegen . Zu jedem denkbaren Thema gibt es bereits ein Kochbuch. Ob vegan, vegetarisch, low-carb oder glutenfrei, man wird stets fündig. Dies liegt sicherlich unter anderem auch daran, dass eine gesunde Ernährungsweise in der heutigen Gesellschaft immer mehr an Bedeutung gewinnt. Immer öfter finden sich Ernährungsratgeber und Kochbücher in den Bestsellerlisten wieder.

Wenn man jedoch speziell ein Kochbuch für Menschen im Autismus-Spektrum sucht, sind die Angebote überraschenderweise sehr gering. Daher war das Anliegen des TFZ, ein Kochbuch für Menschen im Autismus-Spektrum herauszugeben, eine sehr spannende und begrüßenswerte Idee. Innerhalb der Zusammenarbeit mit den eigenen Klienten*innen des TFZ nahm diese Idee sehr schnell Form an und aus einer Vision wurde ein Konzept entwickelt.
Der Verlag Vi-Strategie hat sich sehr gern diesem Projekt angenommen.

“Nach international festgelegten Kriterien”, so lautet die Antwort auf die selbst gestellte Frage auf der TFZ-Homepage, was Autismus ist, “ist die ´Autismus-Spektrum-Störung´ (Autistisches Syndrom, Asperger-Syndrom, Kanner-Syndrom, Frühkindlicher Autismus) eine Form einer früh beginnenden ´tiefgreifenden Entwicklungsstörung´, die kognitive, emotionale, interaktionale, sprachliche und motorische Funktionsdefizite umfassen kann.

Die Beeinträchtigungen betreffen dabei die Bereiche:

• der sozialen Interaktion
• der Kommunikation
• des Verhaltens in Form eingeschränkter, stereotyper oder repetitiver Muster.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in ihrer Klassifikation der Krankheiten – Version 10 – (ICD-10) den Autismus bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unter dem Code F 84 ´tiefgreifende Entwicklungsstörungen´ wie folgt beschrieben:  

´…Diese Gruppe von Störungen ist gekennzeichnet durch qualitative Beeinträchtigungen in wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern und durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Diese qualitativen Auffälligkeiten sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal des betroffenen Kindes, (Jugendlichen oder Erwachsenen) ´

Neben diesen spezifischen diagnostischen Merkmalen zeigen sich häufig auch eine Vielzahl weiterer, unspezifischer Probleme wie Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche und (z. T. auch autodestruktive) Aggressionen.” 

AKTUELLES hatte nunmehr die Gelegenheit mit Michèle Günther, einer der Leiterinnen des TFZ und seitens des TFZ Verantwortliche für das Buchprojekt im Interview die vergangenen Wochen Revue passieren zu lassen und Fragen zur Idee, zur Umsetzung und zur geplanten Präsentation des Kochbuch-Projektes stellen zu können.

Coverbild des Kochbuchs „MAHLZEIT! Strukturierte Rezeptideen für Menschen im Autismus Spektrum“. Das Bild wurde von Leon Paul Kaiser angefertigt. Mit dieser Zeichnung beantwortete er die Frage, wie er sich selbst dem Thema Kochen gegenüber sieht.


Michèle Günther, eine der beiden Leiterinnen des TFZ und TFZ-Verantwortliche für die Gestaltung des Kochbuchs „MAHLZEIT! Strukturierte Rezeptideen für Menschen im Autismus Spektrum“ Foto: TFZ

Frau Günther, die jüngsten Wochen waren für alle Mitwirkenden des Buchprojekts sehr interessant und aufregend. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich als erstes die Frage,  wann und vor allem wie entstand ihre Idee, ein Kochbuch für Menschen im Autismus-Spektrum anzufertigen? 

In unserer alltäglichen Arbeit mit Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung spielt auch die Förderung alltagspraktischer Fähigkeiten eine wichtige Rolle.

Aus der Idee, ein Kochprojekt zu gestalten, das alltagspraktisches Training mit dem Training sozialer Kompetenzen vereint, entstand auch der Gedanke, etwas Selbstständigkeitsförderndes an die Hand zu geben, das ebendiese Förderung nachhaltig unterstützt.

Viele Menschen im Autismus-Spektrum haben Schwierigkeiten, Handlungen selbstständig und spontan zu planen oder ungenaue Formulierungen zu interpretieren. Handelsübliche Kochbücher oder Rezepte aus dem Internet setzen jedoch auf diese Fähigkeiten. Ein Kochbuch mit einem klaren, übersichtlichen und stark bebilderten Aufbau und deutlichen Formulierungen bzw. Anweisungen passt sich an die Bedürfnisse von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung an und kann ihnen helfen, selbstständiger zu handeln und sich zu orientieren. Natürlich hoffen wir auch, dass ein solches Buch den Spaß am Kochen fördert.

Dies klingt nach einer starken sozialen Komponente, die hinter ihrem Buchprojekt steht. Was liegt Ihnen persönlich an diesem Projekt?

Ich persönlich sehe das große Potential eines jeden Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, das hinter einer selbstständigen oder zum Großteil selbstständigen Lebensführung steht. Manchmal können kleine Alltagshilfen oder Unterstützungen Großes bewirken und somit auch ein Stück zur Lebensqualität beitragen.

Alle Beteiligten hoffen, diese Unterstützung mit der Verwirklichung des Buchprojektes erfüllt zu haben. Wie verlief für Sie die Zeit von den ersten schriftlich festgehaltenen Konzeptideen bis zur Druckfreigabe?

Für uns war es natürlich eine ganz neue Erfahrung, ein Buch zu konzipieren und ebendiese Handlungsschritte mit unserem Alltag hier im Therapie- und Förderzentrum sowie dem nebenbei laufenden aktiven Kochprojekt zu vereinen. Nach der Konzeptidee und der festgelegten Zusammenarbeit mit dem Verlag Vi-Strategie ging es zu großen Teilen erst einmal darum, gemeinsam mit den Teilnehmern des Kochprojektes gezielt Stolpersteine üblicher Rezepte und Kochbücher, aber auch Bedürfnisse von Menschen mit autistischen Wahrnehmungen herauszuarbeiten.

Die Erstellung der Bilder und das Schreiben der Rezepte und Kapitel forderten teilweise zeitliche und personelle Ressourcen, die in ihrem Umfang in den Planungen deutlich unterschätzt wurden. In diesem Bezug mussten wir auf das Verständnis, das Engagement und die Flexibilität des Verlages Vi-Strategie bauen, um eine Fertigstellung des Werkes im Jahr 2018 zu ermöglichen.

Aber nicht nur die strukturierte Zeiteinteilung und Konzeption, sondern auch Komponenten wie finanzielle Unterstützung und die Unterstützung durch Helfer*innen waren sicherlich unabdingbar. Inwieweit konnten Sie auf Unterstützung jedweder Art bei ihrem Buchprojekt zurückgreifen?  

Finanzielle Unterstützung erhielten wir vorrangig durch die Projektförderung des Fonds „Soziale Innovationen“ des AWO-Landesverbandes Thüringen. Die Realisierung des Buchprojektes wurde dann natürlich durch unsere Mitarbeiter, engagierte ehrenamtliche Helfer und unsere Klienten tatkräftig unterstützt. Bei der Layout-Gestaltung des Buches, in Beratungsangelegenheiten zur allgemeinen Konzeption sowie bei der Erstellung einiger Bilder konnten wir auch auf die Ressourcen des Verlages Vi-Strategie zurückgreifen.

Die Überschreitung finanzieller Kapazitäten wurde ebenfalls vom Verlag abgefedert.

Abschließend bleibt eine letzte Frage. Das Buch ist ein Geschenk für die Klienten*innen des TFZ. Wann und in welchem Rahmen werden diese es erhalten?

Um unser Kochprojekt und die Erstellung des Kochbuches noch in diesem Jahr zu würdigen, planen wir die Präsentation und Vergabe der Bücher im Rahmen eines Adventskochens am 19.12. um 15.30 Uhr in unserer Einrichtung.

Neben weihnachtlicher Stimmung, allerlei Köstlichkeiten und der Möglichkeit, selbst etwas Essbares zu gestalten und herzustellen, sollen Exemplare des Buches unseren Klienten sowie anderen Interessierten kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. 

Dann erlauben Sie bitte abschließend im Namen des Verlages Vi-Strategie allen künftigen “Kochbuchbesitzern” und damit hoffentlich zahlreichen Köchen und zukünftigen, die es werden wollen, viel Freude mit dem neuen Kochbuch. 

(Das Gespräch mit Michèle Günther führte Ann-Christin Stück, die seitens des Verlags Vi-Strategie für das Kochbuch-Projekt verantwortlich zeichnete.)

www.autismus-thueringen.de

www.transmedial.de

Vita

Michèle Günther hat Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal studiert. Ihr Studium schloss sie zunächst mit dem Bachelor of Science und später dann mit dem Master of Science ab.

Seit Dezember 2016 ist sie beim AWO Therapie- und Förderzentrum Erfurt tätig. Derzeit ist sie eine der beiden Leiterinnen der Einrichtung.